Ich zog meinen Ganzkörper-Trainingsanzug an und aktivierte ihn. „Programm Eins“, wies ich ihn an.
Vor meinen Augen entstand ein altmodischer Trainingsraum mit Geräten, Matten und trainierenden Menschen im Hintergrund. Eine entsprechende Geräuschkulisse entstand direkt an meinen Ohren. Wie von selbst stiegen meine Arme in die Luft, denn die künstlichen Muskeln im Anzug bewegten mich in die richtige Position. Meine Hände umfassten eine Stange. Die Stange war nicht wirklich da, aber die Brille des Anzuges sorgte dafür, dass ich eine sah, und die Mechanik im Anzug sorgte dafür, dass ich sie spürte.
Das erste Ziel waren zehn Klimmzüge. Kraftvoll zog ich mich an der Stange hoch. Der Anzug gab mir wirklich das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren und mich selbst in die Luft zu ziehen. Allerdings war die Übung etwas leichter eingestellt. Ich war noch Anfänger. Mein Ziel für nächsten Monat waren zehn Klimmzüge ohne Erleichterung. Und irgendwann würde ich einen höheren Schwierigkeitsgrad einstellen.
Geschafft.
Als nächstes waren zehn Liegestütze dran. Ich ließ mich einfach nach vorne fallen. Ich wusste natürlich, dass ich das ohne den Anzug nicht hätte machen können, ohne Verletzungen zu riskieren. Aber der Anzug fing den Fall ab. Ich landete in Position und begann sofort mit den Liegestützen.
Nachdem ich eine halbe Stunde später mein Programm absolviert hatte, zog ich den Anzug aus.
Der Raum war kahl und leer. Hinter mir war die Tür. Von den Wänden ging Licht aus, aber so diffus und dezent, dass man es nicht sah. Der Raum war einfach hell, ohne dass eine Lichtquelle zu erkennen gewesen wäre.
Ich zog meinen Computer aus der Tasche und legte meinen Daumen auf das Identifikationsfeld.
„Kleiderschrank auf“, sagte ich und beobachtete, wie eine Wandabdeckung nach oben fuhr und den Blick auf meinen Kleiderschrank preisgab. Ich räumte den Trainingsanzug ein.
„Kleiderschrank zu, Wohnzimmer Ambiente Landhaus“, wies ich ihn an, „Funktionsbereich Büro“.
Die Wände verwandelten sich zu den Holzbrettern und Stützbalken eines alten Landhauses. Ein warmer Ton ging von ihnen aus. Ein Kristall-Kronleuchter hing von der Decke und schimmerte auf die Art und Weise, die ich liebte. Ich stand auf Holzdielen. Zimmerpflanzen standen in der Ecke. Vor mir ein großes Fenster, durch das ich den perfekten Sonnenaufgang in fast unberührter Natur beobachten konnte. Ein Waldrand mit einem See, in dem ganz meditativ ein Reiher stand. Der Morgentau blitzte auf den Gräsern, wenn sich das Sonnenlicht darin brach.
Die perfekte Illusion.
Schlichte Konstrukte fuhren aus der Wand links von mir, entfalteten sich in einem komplizierten Tanz zu einem Schreibtisch und einen Stuhl. Für einen Augenblick sah es befremdlich aus, da die Textur von Holzbrettern und Stützbalken darauf zu sehen war. Doch mit einem kurzen Flimmern verwandelten sich die Konstrukte scheinbar in massives Eichenholz.
Mein Arbeitsplatz war bereit.
Ich beherrschte meinen Job und verdiente stetig mehr. Bald könnte ich mir die Freischaltung der Lautsprecher im Boden leisten; es würde dann auch beim Laufen so klingen, als ob ich über Holzdielen liefe. Ich hatte es bei meinem Nachbarn schon erlebt und war begeistert gewesen. Außerdem leistete der sich Duftstoff-Patronen, die ich mir auch anschaffen wollte. Ich würde das Holz sogar riechen! Mein Herz schlug schneller bei dem Gedanken.
Mein Computer gab einen sanften Ton von sich, der mir bedeutete, dass mein Einkauf geliefert worden war, aber das war jetzt nicht wichtig.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und drückte auf den kaum sichtbaren Schalter, durch den ein Bildschirm aus dem Konstrukt nach oben fuhr.
Heute sollte ich als Erstes eine Werbung über das Megapartement B-Life 30 sprechen; den Gebäudekomplex, der einer Millionen Menschen Wohnraum bot. Ich wohnte selber in einem solchen Komplex. Günstigster Wohnraum kombiniert mit neuster Technik für den Komfort.
Ich legte meinen Computer neben den Bildschirm und erhöhte mit ihm die Sauerstoffzufuhr im Raum. Das kostete zwar mehr, steigerte aber auch meine geistige Leistung entsprechend. Ich atmete tief ein und schloss die Augen. Die passenden Worte begannen, in mein Bewusstsein zu strömen. Ich öffnete die Augen und schaute zufrieden aus dem Fenster. Eine Idylle. Meine Idylle!
Auf dem Bildschirm war der gigantische, graue Gebäudekomplex zu sehen. Ich stellte mir vor, wie eine Millionen Menschen sich in einer Millionen kleiner Zellen eine Millionen Paradiese erschufen. Euphorie durchfuhr mich.
Es war ein guter Tag.
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