Zylinder

Der alte Konrad Steinbrecher hasste und verachtete die Welt und alles Leben darin, das ließ er jeden unverhohlen spüren und sehen. Er war ein Kotzbrocken. Er sprach nicht, er zischte und grollte. Er schaute nicht, er sandte Todesblicke aus. Er grüßte nicht, er entblößte stumm die Zähne in einer Abscheu demonstrierenden Fratze. Einmal soll er sogar jemanden niedergeschlagen haben, nur weil der ihn gegrüßt hatte.

Man unterstellte ihm Schlangengift auszudünsten, und dass man daher in seiner unmittelbaren Umgebung gesundheitliche Schäden erleiden würde.

Als ehemaliger Großgrundbesitzer war er einst zu großen Reichtum gekommen. Nun lebte er einsam und zurückgezogen in seinem Landhaus, das mitten im Arbeiterviertel völlig fehl am Platze wirkte. Steinbrechers Garten war ein Steingarten, und oft genug lief er nach vorne gebeugt darin umher, gewissenhaft jedes Leben darin herausziehend.

Man sah ihn immer nur im Frack. Stets trug er einen Zylinder auf dem Kopf, und er stützte sich auf seinen wertvollen Gehstock. Seine weißen Haare und sein faltiges Gesicht ließen ein hohes Alter vermuten und die Leute hofften, er würde bald sterben.

Eines winterlichen Tages lag ein Weidenkorb vor seiner Haustür. Argwöhnisch beugte sich der alte Steinbrecher hinunter, um dessen Inhalt zu begutachten.

„Ist das ein Baby?“, fragte ein Arbeiter hinter ihm entsetzt.

„Verschwinde“, zischte der alte Steinbrecher automatisch und schleuderte seinen Gehstock mit dem Knauf voran herum. Hätte er ihn dabei losgelassen, er hätte den Arbeiter wohl niedergestreckt.

Mit bleichem Gesicht zog dieser davon. Und das Gerücht hielt sich über Jahre, dass jemand so herzlos gewesen war, das Todesurteil über einen Säugling zu sprechen, indem dieser dem Steinbrecher vor die Tür gestellt worden war. Niemand sprach vom Winter.

Obwohl die Neugier groß war, war doch der Glaube größer gewesen, dass Steinbrecher einen Säugling eher verspeisen würde, als sich damit herumzuärgern. So geriet das Ereignis wieder in Vergessenheit.

Doch über die Jahre geschah eine Verwandlung: Steinbrecher schien sich nicht mehr um seinen Steingarten zu kümmern, und mit einem Mal wuchsen dort Magnolien, Orchideen und jede Menge exotischer Pflanzen, welche die Bewohner des Viertels nicht zu benennen wussten.

Und eines Tages verließ ein junges Mädchen das Landhaus des alten Kotzbrockens, der auch in den letzten Jahren sein Verhalten den Menschen gegenüber nicht verändert hatte.

Das Mädchen ging mit großen, offenen Augen in die Welt, unbeschwert und fröhlich. Es war freundlich und höflich zu den Menschen, die es traf, sah hübsch und gepflegt aus und war im Großen und Ganzen einfach das genaue Gegenteil von Konrad Steinbrecher.

So glaubten die Leute erst einmal gar nicht, dass dieses Mädchen mit dem Namen Filomena überhaupt etwas mit dem alten Steinbrecher zu tun hatte. Doch schließlich erklärte sie immer wieder, dass Konrad Steinbrecher der beste und liebevollste Großvater der Welt sei. Ihr Name würde bedeuten „bestimmt zu lieben“, und der alte Mann würde es lieben allein schon ihren Namen auszusprechen.

Filomena machte schnell Freunde und war in Windeseile überall beliebt.

Einmal schlug ihr ein Nachbarsjunge auf die Nase. Sie ging nicht heim, bevor sie in aller Sorgfalt das Blut von der Nase entfernt hatte. Vielleicht wusste sie heimlich doch, vermuteten die Leute, dass derjenige seines Lebens nicht mehr sicher sein konnte, der dem Mädchen des grimmigen Steinbrechers etwas zu Leide tun würde.

Dieser nahm auch am nächsten Tag sogar allen Mut zusammen, Steinbrechers Landhaus aufzusuchen. Bei seinem Schlag auf Filomenas Nase war nämlich ihr Zylinder zu Boden gefallen und liegen geblieben. Denn auch sie wurde bis auf diesen einen Tag nie ohne einen Zylinder auf dem Kopf gesehen.

Zum Unglück des Jungen machte der alte Steinbrecher selbst die Tür auf. Mit zitternden Händen übergab der Ängstliche ihm den Hut. Der alte Mann wusste wohl tatsächlich nichts um die Umstände, wie der Hut verloren gegangen war. Später berichtete der Junge, er habe den Alten tatsächlich kurz lächeln sehen, und einen Dank soll er auch gemurmelt haben.

Doch das Verhalten des alten Steinbrechers änderte sich ansonsten überhaupt nicht. Er war giftig und grantig wie immer und machte den Leuten Angst, die seinen Weg kreuzten. Die Leute jedoch sahen seine Liebe in Form von Filomena, die sich prächtig entwickelte und von allen Menschen im Viertel geschätzt und geehrt wurde. Sie rechneten ihm dies hoch an und waren von nun an stets höflich und freundlich zum alten Steinbrecher, der wohl so manches Mal kaum seine Verwunderung darüber verbergen konnte.

Niemand hoffte mehr auf sein baldiges Ableben und zu seinem Tod wurde das Landhaus überschüttet mit Blumen und Beileidsbekundungen, als wäre der alte Griesgram tatsächlich ein wertvolles und wichtiges Mitglied der Gemeinschaft gewesen.

Und hat die Geschichte auch eine Moral oder eine Botschaft, eine Mahnung oder vielleicht eine frohe Kunde?

Ja. In jedem von uns steckt ein kleiner Steinbrecher. Was das bedeuten soll? Ich weiß es nicht…

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