Das Wetter war herrlich und die ganze Welt um sie herum erblühte in einem bunten Frühling.
Sie rannten um die Wette. Der Weg bestand aus Gräben, die es zu überspringen galt, Hügel und Kletterwände, die es zu überwinden galt, und er endete am großen See. Sie sprangen hinein und schwammen bis an das andere Ufer, wo die Akademie stand. Dort stiegen sie aus dem Wasser und begannen, gegeneinander zu kämpfen. Es sah aus wie ein anmutiger Tanz. Sie beherrschten ihre Körper perfekt und kämpften, bis sie wieder trocken waren. Dann gingen sie zu ihrem gemeinsamen Kraftort.
Auf dem Weg dorthin trafen sie Sammler, welche Körbe voller nahrhafter Gemüsesorten und Früchte mit sich führten und zur Akademie brachten. Man grüßte sich herzlich.
Sie bemerkte, wie er ihnen schon wieder schmerzerfüllt hinterher schaute.
Sie kamen an der alten Trauerweide an und ließen sich unter ihr nieder. In der Umgebung standen Gedächtnis-Steine, auf denen Wissen eingraviert war, das man hier studieren konnte.
„Glaubst Du immer noch, sie verschwenden ihr Leben?“, fragte sie lächelnd.
Sie ließen sich im Gras nieder.
„Du bist mit Herz und Seele ein Entwickler“, sagte sie ihm voller Verständnis. Sie hatte es ihm schon öfter erklärt. „Für Dich ist es erstrebenswert, Körper und Geist bis an die Grenzen zu entwickeln und diese so gut es geht zu erweitern“, beschrieb sie seine Lebensphilosophie. „Du bringt damit die Menschheit voran und ermöglichst ihr neue Wege. Du bist das Werden.“
Er nickte. Er hatte diesen Vortrag schon öfter gehört, aber noch immer hatte er ihre Worte nicht ganz verstanden. Auch diesmal lauschte er ihr wieder hingebungsvoll, denn er wollte ja lernen. Er wunderte sich selber darüber, dass er bei diesem Thema Schwierigkeiten mit dem Verständnis hatte, denn es klang so einfach.
„Die Sammler ermöglichen uns diese Arbeit, indem sie uns ernähren“, fuhr sie fort. „Aber mehr noch. Es ist nicht so, als ob sie sich für uns opfern würden und als Gegenleistung von unseren Errungenschaften profitieren dürften. Ihr Weg ist die Kultivierung der Seele. Ihr Weg ist das Sein, und unsere Wege sind untrennbar miteinander verbunden.“
„Werden“, sagte sie und hob den einen Arm. „Sein“, sagte sie und hob den anderen Arm. Mit beiden Armen zusammen bildete sie ein X.
„Unsere Wege scheinen gegensätzlich, und doch könnten sie gar nicht ohne einander existieren“, schloss sie und ließ die Arme sinken.
Bei den Worten schauten sie sich an und rutschten zueinander, um Zärtlichkeiten austauschen zu können.
„Wissen und Können sind unendlich wertvoll, aber die innere Weisheit ist ebenso unbezahlbar und wichtig“, erklärte sie wieder im sanften Tonfall.
„Hm“, machte er.
Eine Weile lang schwiegen sie und genossen ihr Beisammensein.
Schließlich holte sie Luft.
„Ich habe mich entschieden“, erklärte sie in einem festen Tonfall, der ihn besonders aufhorchen ließ. „Ich werde die Akademie morgen verlassen und zu den Sammlern gehen.“
Er schaute sie ungläubig und fassungslos an.
„Die Akademie ist dein Leben“, wusste sie zu sagen, „aber ich glaube, dass ich beides möchte: Werden und Sein. Wenigsten kennen lernen möchte ich diesen Weg, und sei es nur für ein paar Jahre.“
„Nur für ein paar Jahre“, flüsterte er traurig.
Eine Weile lang schwiegen sie gemeinsam.
„Vielleicht lerne ich es ja eines Tages auch“, erklärte er. „Aber im Augenblick kann ich hier nicht weg.“
„Du bist mit Herz und Seele ein Entwickler“, sagte sie ihm voller Verständnis. „Aber vielleicht entwickelst Du ja eine tiefere Verbindung zwischen den zwei Welten.“
„Ich liebe Dich“, sagte er.
„Ich liebe Dich“, sagte sie.
Sie liebten sich ein letztes Mal an ihrem gemeinsamen Kraftort.
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