Wein

Eines Tages hielt ich mein altes Leben nicht mehr aus, packte meine sieben Sachen und verschwand Hals über Kopf in einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Ich reiste mit leichtem Gepäck und ließ viel zurück: persönlich wertvolle Erinnerungsstücke, einen Job, einen Freundeskreis.

Doch in meinem alten Leben hatte ich mich verrannt, verzettelt, bin einfach zu oft gegen die Wand gelaufen und hab kein Licht mehr gesehen. Jetzt brauchte ich Abstand, eine Pause, Zeit und Raum um die Dinge neu zu ordnen.

Ich wollte einen klaren Schnitt und einen Neuanfang.

Neue Stadt, neue Wohnung, neuer Job. Alles war fremd für mich und kostete erstmal Energie und stresste mich.

Aber die neue Stadt gefiel mir. Die gotische Architektur und die vielen Grünflächen gaben mir das Gefühl, durch die Zeit zurück in eine Art Märchenwelt entflohen zu sein, die mir Gelegenheit gab, die Dinge neu zu ordnen. Es dauerte nicht lange, da liebte ich diese Stadt.

Auch der Job gefiel mir. Ich wurde herzlich in ein gut funktionierendes Team aufgenommen und integriert. Während in meinem alten Job gegeneinander gearbeitet wurde, zog man hier an einem Strang. Es dauerte nicht lange, da liebte ich diese Arbeit.

Und die neue Wohnung gefiel mir auch. Sie lag nahe an einem Park, in dem ich auf ausgedehnten Spaziergängen meine innere Ruhe wiederfand. Es war ein Mehrparteienhaus mit einer netten Gemeinschaft, in der ich so aufgenommen und akzeptiert wurde, wie ich war. Abends wurde oft gemeinsam gegrillt, und ich fing an, an diesen Abenden teilzunehmen.

Über mir wohnte die schöne Bäckereifachverkäuferin. Wir kamen an den Grill-Abenden oft ins Gespräch. Das erste Mal, als sie mir ihren Namen nannte, vergaß ich ihn wieder. Ein paar Tage lang lauerte ich bei den Gesprächen darauf, dass die anderen Nachbarn sie namentlich ansprechen würden.

Sophie!

Sie interessierte sich für mich und meine Vergangenheit. Schnell merkte sie, dass ich nicht besonders scharf darauf war, mein früheres Leben wieder auszurollen. Ob ich denn eine Freundin hatte? Nein, auch bei Frauen hatte ich oft genug daneben gegriffen. Vielleicht war das Leben als Single einfach besser geeignet für mich. Auch wenn bei dieser Aussage der Frust aufstieg und einen bitteren Nachgeschmack hinterließ.

Sie lachte. Ich fragte warum. So fing sie ihrerseits an, ihre Vergangenheit zu offenbaren. Beziehungstechnisch hatte sie wohl ganz ähnliche Erfahrungen gemacht und war nun froh darüber, die Freiheiten genießen zu können, die das Single-Dasein mit sich brachte.

Auch sie kam an Stellen in ihren Erzählungen, an denen sie nicht weiter ins Detail gehen wollte. Diese Augenblicke tauchten bei uns beiden immer wieder auf. Wir schwiegen dann beide gemeinsam, und das erzeugte mit jedem Mal eine stärkere Atmosphäre des stillen Verstehens und ein Gefühl von Verbundenheit, das mit jedem Mal tiefer wurde.

Eines Abends – das klingt, als ob es lange gedauert hätte, aber ich glaube, ich wohnte erst zwei Wochen in dem Haus – gingen wir nach einem solchen Abend getrennt in unsere Wohnungen und ich spürte den Schmerz der Einsamkeit besonders stark. Vielleicht auch deswegen, weil ich merkte, wie sehr ich mich zu Sophie hingezogen fühlte.

Ich lag schon im Bett, da fasste ich einen Entschluss. Eilig zog ich mich wieder an, machte mich frisch, nahm eine Flasche Wein aus dem Schrank und hastete nach oben zu Sophies Wohnung. Plötzlich klingelte es mir wieder in den Ohren, wie sie davon sprach, glücklich ungebunden zu sein. Fast wär ich wieder umgedreht. Vielleicht schlief sie ja auch schon. Da hörte ich Geräusche aus ihrer Wohnung. Sie war noch wach. Ich klingelte, bevor mich der Mut komplett verließ. Aber das Herz rutschte mir in diesem Moment tief in die Hose.

Sie öffnete. Was für ein unvergesslicher Anblick. Sie hatte sich schön gemacht, sah aus wie eine Prinzessin aus einem anderen Land. Ihre Frisur war hochgesteckt und sie trug einen Kimono mit raffinierten Sickereien drauf. Sie duftete herrlich. Sie schien eine Verbeugung anzudeuten und wirkte dabei auf mich so anmutig.

Ich fühlte mich wie Bauer am königlichen Hof. Hilflos und ungelenk stand ich da, mit der Flasche Wein in der Hand und blickte in ihre erwartungsvollen, großen, braunen Augen. Ich hatte mir keine Worte zurecht gelegt, ich hatte es zu eilig gehabt. Wie ein Trottel hielt ich ihr die Flasche entgegen und öffnete den Mund.

„Ich dachte, wir feiern noch etwas unser Single-Dasein“, hörte ich mich sagen. Idiot! Wenigstens hatte ich was gesagt, aber die Worte schienen meinem Ansinnen entgegen zu stehen.

Sie lachte. Wie schön sie dabei aussah. Tatsächlich trat sie etwas zurück und lud mich mit einer entsprechenden Geste dazu ein, ihr Reich zu betreten.

Sie führte mich ins Wohnzimmer, wo ich erschrak und mich fühlte, als wäre ich gerade schockgefroren worden.

„Bekommst Du noch Besuch?“, fragte ich. Es schnürte mir die Kehle zu.

Auf dem Glastisch stand eine frisch geöffnete Flasche Wein und zwei Gläser.

Mit einem geheimnisvollen Lächeln nahm sie die Weinflasche vom Tisch. Es war der gleiche Wein, den ich mitgebracht hatte. Stumm schenkte sie ein und schaute mich dann an.

Eben wirkte sie noch so unnahbar und stark, doch in diesem Augenblick wirkte sie so verletzlich. Ich wünschte mir, sie beschützen zu können.

„Ich hatte den selben Gedanken gehabt“, sagte sie. „Ich wollte Dich gerade fragen, ob Du nochmal hochkommen magst.“

Diesen Augenblick werde ich nie vergessen. Ich weiß nicht, wie lange ich bewegungslos da stand, während mein Herz sang und schrie, es schien mir eine Ewigkeit zu sein.

Es dauerte nicht lange, da liebten wir uns. In ihrem Prinzessinnen-Bett.

Sieben Jahre ist das jetzt her.

Wir lieben uns noch immer.

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